Interview eines Trauerredners

Im Rahmen meiner Tätigkeit als Trauerredner durfte ich Herrn Frank Keil ein Interview für das Magazin 'ERNST' geben. Wir haben uns über meinen Weg zum Trauerredner, die emotionalen Aspekte dieser Tätigkeit und den Zusammenhang zu meiner Arbeit als Bestatter unterhalten. Hiermit möchte ich mich nochmals herzlich für die Gelegenheit bedanken, einen tieferen Einblick in diese besondere Berufung geben zu dürfen.

Das letzte Wort

ERNST: Menschen, die einen Angehörigen verloren haben, und Sie als Trauerredner, wie kommen sie zusammen?

Stefan Stödter: Vorab, weil es wichtig ist: Ich bin Bestatter und einer der ganz wenigen, der auch Traueransprachen macht. Denn normalerweise ist es so, dass Bestatter einen Rednerpool haben, und auch ich habe lange mit einer Rednergemeinschaft zusammengearbeitet. Bis ich über einen Umstand – den ich Ihnen gerne noch erzähle – dazu gekommen bin, meine erste Trauerrede zu halten. Jetzt ist es so, dass ich als Bestatter die Angehörigen nach einem Sterbefall betreue, und wenn es zu der Frage kommt «Pastor oder Redner» und die Angehörigen einen Redner haben wollen, biete ich ihnen meine Dienste an. Und nahezu immer sind die Menschen dankbar, dass sie mit mir weiterarbeiten können und nicht wieder ein Fremder zu ihnen kommt.

Wie geht es dann weiter?

Ich mache einen extra Termin aus, wo ich die Familie besuche. Er dauert anderthalb bis zwei Stunden, denn was man in dieser Zeit nicht erfahren hat, erfährt man auch nicht in drei oder mehr Stunden. Oft ist es ein Abendtermin, weil ich es schön finde, wenn möglichst viele Angehörige dabei sein können – die Kinder, die Enkel eventuell, weil jeder ja eine eigene Sichtweise auf den Verstorbenen hat. Je mehr Input ich bekomme, desto mehr kann ich auch wiedergeben. Ich bin darauf angewiesen, möglichst viel zu fragen, zuzuhören und dann daraus etwas zu machen. Wenn Enkel oder Urenkel nicht dabei sein können, biete ich an, dass sie mir eine E-Mail schreiben.

Sie lassen erst einmal erzählen?

Eigentlich nicht. Ich erzähle den Leuten zunächst, wie ich ein Rede-Gespräch aufbaue und dass für mich eine Trauerrede im Grunde eine Lebensgeschichtenerzählung ist, wo man als Trauergast sich einfach mal zurücklehnen kann und an dem Leben teilhat. Oft ist es so, dass man Menschen erst in einem Alter kennenlernt, wo die Kindheit, die Jugend weit hinter einem liegt.

Man lernt sich über die Arbeit kennen, über den Sport, vielleicht über ein Hobby – aber viele Leute kennen nicht die kompakte Lebensgeschichte eines Menschen, von dem sie sich nun verabschieden. So eine Lebensgeschichtenerzählung fängt für mein Verständnis mit der Geburt an, und dann geht es Lebensphase für Lebensphase weiter. Während so eines Gespräches hat man immer Punkte, wo man merkt: «Ah, das war eine Charaktereigenschaft des Verstorbenen. » Oder: «Das war eine Macke, das war eine Kante.» Zum Abschluss dieses Gesprächs, wenn man sagen kann, jetzt haben wir gemeinsam einen Lebenslauf erarbeitet, kommt der Moment, wo ich frage: «Was haben Sie von dem Verstorbenen Besonderes geschenkt bekommen? Was werden Sie vermissen? Was ist Ihnen besonders wichtig? Wie würden Sie stichwortartig den Charakter beschreiben?» So versuche ich weitere Informationen zu bekommen. Manchmal geht das, manchmal geht das nicht.

Es gibt viele Menschen, und das ist zuweilen erschreckend, die relativ wenig aus dem Leben ihrer Angehörigen wissen. Oft kennen die Kinder nicht die Kennenlern-Geschichte ihrer Eltern. Manchmal ist da viel, aber es gibt auch Menschen, wo ich sagen muss: Da habe ich jetzt ganz wenig, und wo ich gucken muss, wie ich damit
eine Rede auffülle, so dass es für die Angehörigen, aber auch die Trauergäste gut wird.

Weil in den Familien wenig erzählt wird?

Weil in den Familien zwischen den Generationen nicht viel erzählt wird, aber auch manchmal nicht gefragt wird und man daher gar nicht so viel voneinander weiss. Gerade Zeitgeschichtliches zu berücksichtigen finde ich sehr spannend. Wenn ich mir Menschen anschaue, die ab 1930 in Deutschland, aber auch in den ehemaligen deutschen Gebieten geboren wurden – was die alles mitgemacht haben! Das ist so spannend für die nächste Generation! Allein wenn ich mir ausmale: «Mein Vater war acht Jahre alt, als er seine erste Banane ass.» Wenn ich das meinen Kindern erzähle, gucken die mich an und sagen: «Das kann ich mir gar nicht vorstellen!» Oder dass es keine Weihnachtsgeschenke gab, keine Urlaube, was die Menschen sehr geprägt hat.

Man kann natürlich in einer Rede über einen Menschen aus dieser Generation sagen: «Er war ein sehr sparsamer Mensch.» Man kann sagen: «Er war ein Mensch, der sehr viel Sachen gehortet hat.» Aber ich kann auch eine Geschichte daraus machen, die von diesem Sparen und Horten erzählt. Wenn man das probiert herauszuarbeiten, hilft es, dass die Angehörigen sagen können: «So habe ich meinen Vater noch nie gesehen! Jetzt verstehe ich ihn ein bisschen besser.» Das sind dann die Glanzpunkte, ganz egoistisch für mich, wo ich denke: «Da hast du sie genau richtig erreicht.»

Wäre es nicht schön, wenn die Angehörigen selbst etwas zum Abschied sagen würden?

Ich frage schon im Beratungsgespräch als Bestatter und dann beim Gespräch über die Trauerrede, ob die Angehörigen nicht selbst etwas sprechen wollen – aber meistens können die das nicht. Manchmal verlese ich etwas und da ist es hilfreich, wenn ich den Angehörigen etwa sage: «Schreiben Sie Ihrem Vater doch einen Brief». Oder: «Schreiben Sie auf, was Sie ihm noch mal sagen wollen.» Wenn ich das in der Trauerrede vortragen kann, gibt das einen ganz anderen Anklang, als wenn ich das als Trauerredner sage. Aber das geht nicht immer. Es gibt viele Menschen, die damit komplett überfordert sind.

Gibt es manchmal Notizen eines Verstorbenen, auf die Sie zurückgreifen können?

Leider nicht. Sehr, sehr selten hat jemand seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Meinen Vater habe ich dazu gezwungen. Er war sehr widerspenstig und wollte das nicht machen – und irgendwann rief er an und sagte: «Ich habe angefangen meine Geschichte aufzuschreiben.» Das war spannend für meine Kinder und spannend für seine Schwester, die sich an vieles nicht mehr erinnert hat.

Und dann stossen Sie auch auf Heikles, über das nicht so gern geredet wird?

Da muss man auch mal mutig sein und sagen: «Bei allem, was ich jetzt weiss, irgendwas fehlt hier. Hier wird etwas nicht erzählt.» Ich versuche den Leuten zu sagen: «Generell wäre es toll, wenn Sie mir alles erzählen – Sie dürfen aber auch jederzeit sagen: Das möchten wir nicht hören.» Oft sind die Menschen dann bereit zu sagen: «Alle wissen doch, dass er Alkoholiker war.» Das kann man dann in der Rede ja anders benennen. Man kann ja sagen, dass es Sachen in seinem Leben gab, die sehr hart waren. Dass es ihm manchmal schwerfiel, Hilfe anzunehmen.

Man kann mit Worten so jonglieren, das man erzählt, was war, aber das muss nicht mit einer brutalen Härte geschehen. Ich habe einige Ansprachen für sehr junge Menschen gehalten, die drogenabhängig waren. Und da kann man sagen: «Drogensucht, da steckt das Wort Sucht drin. Und in dem Wort Sehnsucht findet sich auch das Wort Sucht. Wonach hatten die Menschen eine Sehnsucht? Was hat sich nicht erfüllt?»

Stossen Sie da manchmal auf Familienkonflikte?

Also die Frau sagt: «Es war eine gute Ehe», und die Tochter sagt: «Na, ja …» Durchaus. Wobei das eher nicht zwischen Mutter und Tochter geschieht oder zwischen Vater und Sohn, sondern zwischen Geschwistern. Also dass der Bruder sagt: Ich habe meinen Vater so erlebt und die Schwester sagt, dass sie ihn ganz anders erlebt hat. Da muss man dann gucken: Okay, wie bekomme ich das hin, dass es für beide hinterher passt. Man kann ja nicht in der Rede sagen: «Der Bruder hat es so erzählt, die Schwester so – liebe Trauergäste, schauen Sie mal.» Das muss man schon anders machen.

Wie kriegen Sie das hin?

Kann ich nicht sagen! Ich sitze manchmal, wenn ich so ein Rede-Gespräch hatte, zwei, drei Tage später vor meinen schriftlichen Aufzeichnungen und denke: «Was machst du nur daraus?» Wenn man aber die ersten fünf, sechs Sätze geschrieben hat, dann fliesst es plötzlich. Dann funktioniert es. Aber ein Rezept habe ich nicht dafür.

Sie benennen auch die Brüche im Leben …

Ich möchte es nicht erleben und ich erlebe es nicht, dass die Leute dasitzen, die Arme verschränkt, sie mit dem Kopf schütteln und man ihnen ansieht, dass sie denken: «Das stimmt doch alles nicht.» Ich habe genügend Sensibilität in den Jahren erlangt, dass ich im Rede-Gespräch merke, wenn mir etwas erzählt wird, dem nicht so war. Und das sage ich dann den Leuten auch! Ich sage dann ganz offen zu den Angehörigen: «Es macht überhaupt keinen Sinn, jetzt ein Bild von einem Menschen zu zeichnen, der er so gar nicht war.» Aber wenn man anhand seiner Lebensgeschichte erklären kann, warum er so war, dann kann man das erzählen.

Fällt Ihnen ein Beispiel ein?

Schwierig ist es manchmal, wenn ein Mensch zweimal verheiratet war. Die Ehe ging vielleicht zwanzig Jahre, es gibt Kinder und die zweite Ehefrau sagt: «Aber über die erste Ehe sprechen wir nicht.» Dann sage ich: «Entschuldigen Sie – das waren zwanzig Jahre! Also ich finde, wir sollten mutig sein und auch diese Zeit besprechen.» Das ist dann nicht einfach, aber es ist wichtig. Denn eine Trauerfeier ist ganz oft der letzte Moment, wo noch einmal alles zusammenkommt. Und da ist für mich eine Aufgabe und auch eine grosse Verantwortung, das möglichst gut zu machen.

Wann ist eine Rede gelungen?

Wenn ich merke, dass ich aufmerksame Zuhörer habe. Wenn ich merke, dass die Menschen berührt sind – und das muss nicht immer bedeuten, dass jemand weint. Wenn man lacht, wenn man schmunzelt, ist das auch gut. Ich schreibe meine Reden alle aus, also ich schaue auf komplette Sätze. Auch weil ich den Angehörigen anbiete, dass sie die Rede ausgedruckt bekommen, wenn sie das möchten. Manchmal sind Angehörige so in der Trauer verhaftet, dass sie einer Rede nicht recht folgen können, oder sie stehen vielleicht unter Beruhigungsmitteln. Oder denken Sie an Corona, wenn man an einer Trauerfeier gar nicht teilnehmen kann. Da ist es jeweils gut, wenn man eine Trauerrede nachlesen kann. Die Rede ist nicht mein Eigentum, sie ist das geistige Eigentum der
Familie.

Kann eine Rede heilen?

Das kann sie. Denn sie kann Verständnis wecken, wenn Menschen in schwierigen Lebenssituationen waren und sie das prägte. Warum war jemand so unzugänglich? Warum hat jemand den Kontakt abgebrochen? Warum konnte der Vater seine Kinder nie umarmen, warum ging das komischerweise bei den Enkeln? Und ich denke, wenn man einen guten Abschied hat, wo alles so recht passte, dann kann das heilsam sein. Die Trauer kann ich den Menschen nicht abnehmen. Trauer ist ein individueller, eigener Prozess. Aber eine gute Traueransprache finde ich sehr wichtig.

Eine Rede zu schreiben ist vermutlich das eine; das andere sie zu halten, oder?

Ich sage den Angehörigen immer: «Wenn Sie die Rede zugeschickt bekommen, wundern Sie sich nicht, da sind Sätze drin, die Sie nicht gehört haben. Und umgekehrt.» Denn ich habe meine Rede als Vorlage, aber ich lese sie nicht stumpf ab. Es gibt manchmal Situationen, wo ich abends zu Hause beim Noch-mal-Durchlesen denke: «Oh, das ist gut formuliert.» Aber in der Kapelle, wenn ich in die Gesichter sehe, denke ich: «Das passt nicht. Das kannst du jetzt nicht bringen!» Und dann lasse ich die Stelle weg oder füge etwas hinzu. Oder ein Kind weint oder ein Sonnenstrahl fällt durch ein Fenster oder irgendwas passiert, dann greife ich das auf.

Ich habe auch kein Pult mehr, wie am Anfang. Ein Pult hat die Eigenschaft: Man hält sich fest – und dadurch wird man auch fest. Ich spreche jetzt frei, habe eine Rednermappe. Und es gibt Momente, wo ich zu dem Verstorbenen spreche. Dann drehe ich mich vom Publikum weg, spreche zu dem Sarg, spreche zu der Urne. Oder es ist ein Bild aufgestellt, und dann ist es nett, wenn man das Bild anguckt oder auf das Bild zeigt.

Denken Sie manchmal an den Verstorbenen, wenn Sie sprechen?

Ganz oft. Und das nicht nur, während ich die Rede halte, sondern bereits, wenn ich sie schreibe. Ich denke oft: Eigentlich wäre es ideal, wenn der mir auf der Schulter sitzen würde. Und wenn er mir immer einen Klaps auf den Hinterkopf gibt, wenn ich etwas erzähle, was zu ihm nicht passt. Oder wenn ich ihm nicht gerecht werde, wenn ich zu lax bin, zu unsensibel. Es ist also ein Mix: Es gibt die Menschen, meine Auftraggeber, ich bin ein Dienstleister – aber immer frage ich mich auch: Ist es für den Verstorbenen in Ordnung? Deshalb habe ich eine Prämisse: Ich möchte berichten, aber nicht richten. Und ruhig mutig sein und auch heikle Dinge ansprechen; welche Worte man dann dafür findet, ist eine andere Sache. Und was ich ganz wichtig finde: Der Redner ist der unwichtigste Mensch auf einer Trauerfeier. Es gibt nichts Schlimmeres als eitle Redner. Und die Verführung ist da: Es gibt eine Bühne, man hat ein Publikum, es ist ein hochemotionaler Moment. Da muss man sehr aufpassen, dass man Dienstleister bleibt, für die Angehörigen und für den Menschen, für den man die Ansprache hält. Denn über einen Verstorbenen zu sprechen, ist eine sehr intime Angelegenheit.

Wenn Sie auf Ihre Berufsjahre zurückblicken, hat sich beim Verabschieden eines Menschen etwas geändert?

Ich denke nicht, denn worum geht es? Es geht um Beziehung, es geht um Liebe, es gibt um Verbindung, es geht um Brüche – das waren die Themen in den 1970er- oder 1990er-Jahren, und sie sind es auch heute. Vielleicht versuchen wir mittlerweile etwas individueller und tiefer zu gehen. Beispielsweise hatte man früher viel weniger Zeit in den Kapellen. Für mich wäre es ein Gräuel, eine Trauerfeier innerhalb von einer halben Stunde zu halten, mit drei Musikstücken. In der Regel habe ich immer 40, 45, 50 Minuten.

Was mir immer wieder passiert, was ich auch zulasse: Es gibt Situationen, die mich emotional anfassen. Und dann brauche ich auch für mich meine Zeit, weil ich manchmal zwei-, dreimal schlucken muss. Dann rühren mich nicht die Worte an, die ich geschrieben habe, aber die Geschichte, die ich berichte. Auch, weil es etwas anderes ist, ob ich zu Hause oder in der Firma am Rechner eine Rede schreibe – oder ob ich dann in der Kapelle stehe. Wo ich die Menschen sehe, wo ich die Musik höre; dann sind da die Blumen, ich schaue auf ein Bild. Ja: Ich kannte den Menschen nicht. Aber ich habe seine Geschichte kennengelernt. Und dass mich das immer wieder berührt, ich finde, das ist okay.

Jetzt müssen Sie mir noch zum Schluss erzählen, wie Sie als Bestatter auch Trauerredner wurden …

Ich bin seit dreissig Jahren Bestatter, habe wie gesagt lange mit einer Rednergemeinschaft zusammengearbeitet. Aber ich fand es oft schwierig, die Menschen auf dem Friedhof in andere Hände abzugeben und sie nicht weiter zu begleiten. Das war ein Gedanke im Hinterkopf, dem ich nie so richtig gefolgt bin. Und dann habe ich vor fünf Jahren die Beerdigung eines Vaters übernommen: Ich habe eine Tochter, die hat Fussball gespielt, und da gab es einen Papa, der plötzlich verstorben war. Und als ich mit der Ehefrau die Beerdigung besprach, ich ihr einen Trauerredner vorschlug, sagte sie: «Nee, du machst das!». Ich habe abgelehnt, aber sie wollte, dass ich das mache. Also bat ich um ein Wochenende Bedenkzeit – und dann habe ich zugesagt, meine erste Rede gehalten und es war für mich wie ein Geschenk; es war, hört sich kitschig an, es war wie die Krone meines Berufes; es war und ist eine grosse Bereicherung.

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